Der
Umgang mit dem Gedankenmodell "Arbeitsmarkt"
Paradigma
ist ein Wort, das mit zunehmender Frequenz in der Geschäftswelt verwendet
wird. Es bedeutet "Gedankenmodell" oder "Konzept". Oft sind unsere
Gedankenmodelle uns nicht mal selber bewusst. Wir denken, wie wir denken,
weil wir gelernt haben so zu denken. Wann und wo wir unsere Denkmodelle übernommen
haben, ist kaum noch rekonstruierbar.
Der
Umgang mit dem Arbeitsmarkt leitet sich von einem Gedankenmodell ab.
Fragen wir einen deutschen Stellensuchenden nach seinen Aktivitäten,
bekommen wir eine Antwort, die sich zusammensetzt aus solchen Bausteinen
wie "Arbeitsamt aufsuchen" und "in die Zeitung schauen" und
"Bewerbungen schreiben". Diese Bausteine gelten als "normal" und
der Stellensuchende, der diese Aktivitäten entfaltet, betrachtet sich
ebenfalls als "normal".
Diese
Aktivitäten basieren auf dem Gedankenmodell "Der Weg zu einer Stelle
hat mit schriftlichen Bewerbungen zu tun". Man braucht nicht darüber zu
diskutieren, ob dieses Modell richtig oder falsch ist: Tatsache ist, es
ist sehr weit verbreitet.
Geschäftsleute
haben Gelernt, dass man die Welt oft anders sieht, wenn man ein Modell als
Modell betrachten kann (und
nicht mehr als die Wahrheit).
Man sieht oft erst in dieser Betrachtungsweise Handlungsalternativen, die
vorher (aus dem konventionellen Denkmuster heraus betrachtet) nicht
sichtbar gewesen wären. Der Volksmund sagt oft "Aha-Erlebnis" dazu
Wenn
man das Modell "Arbeitssuche gleich schriftliche Bewerbung" als Modell
betrachtet, erkennt man leicht einige Vor- und Nachteile. Die Vorteile
sind vielfältig: Eine schriftliche Bewerbung ist leicht
zusammenzustellen, leicht transportierbar, leicht speicherbar, beliebig
kopierbar.
Die
schriftliche Bewerbungsform hat aber einen Nachteil, der sehr viele
Vorteile überwiegt: Für Millionen von Stellensuchenden funktioniert sie
einfach nicht. Sie führt nicht zum gewünschten Erfolg. Sie schreibt
Handlungsschritte vor, die der Stellensuchende immer wieder vollziehen
kann, ohne dass er zu einer Stelle kommt.
Es
ist wenig fruchtbar darüber zu spekulieren, inwieweit jemand an dieser
Situation Schuld trägt. Bewerber meinen oft, die Arbeitgeberseite hätte
längst schon ein besseres System erfinden müssen. Personalfachleute
monieren fortwährend die schlechte Qualität der Bewerbungsbriefe und
zeigen dann entweder auf die (ihrer Meinung nach) unachtsamen Bewerber
oder auf das Bildungssystem, welches die Bewerber vermeintlich besser hätte
vorbereiten sollen.
Ein
anderes Modell
Seit
1967 gibt es brauchbare Beschreibungen eines anderen Gedankenmodells,
basierend auf der Arbeit des amerikanischen Arbeitsforschers Richard
Nelson Bolles. Life/Work Planning (LWP)
heißt das Verfahren, das Bolles Mitte der 60er Jahre als (damals noch
praktizierender) Pfarrer im Auftrag der evangelischen Kirche zusammentrug.
Es
ist natürlich leicht, neue Ideen (insbesondere amerikanischer Herkunft)
als blauäugig und oberflächlich abzutun. Teilnehmerinnen an
Pilotprogrammen der EU in Frankfurt und an den Universitäten in Münster
und Bremen beschreiben die Seminare jedoch als "herausfordernd" und
"signifikant hilfreich". Bei den beiden Frankfurter Programmen hatten
mehr als 80 Prozent der Absolventen innerhalb von zwölf Wochen eine
Stelle, die sie selbst als "sehr gut zu mir passend" beschrieben. Sie
haben sich von Bolles Modell leiten lassen und agierten eben anders auf
dem Arbeitsmarkt. Wie dieses "anders agieren" in der Praxis aussieht,
können am besten Absolventen selbst beschreiben.
Die
erste Phase heißt "Was?"
Christoph*,
26, ist Bauingenieur und hat fünf Monate gebraucht, bis er einem
Unternehmen das Ja Wort gab. "Ich hatte nach zwei Wochen das erste
Angebot, aber ich wusste, auf Dauer war das keine Firma für mich". Wie
er vorgegangen ist? "Ingenieur war mir klar, aber was genau ich tun würde,
das war weniger klar. Ich hatte das immer vor mir hergeschoben und
gedacht, na... das werden wir schon irgendwie klären. Im Seminar sieht
man, hier sind meine Handlungsmuster, hier die Aktivitäten, die ich immer
wieder wähle und ausführe. Dies sind die Sachen, die ich wirklich gerne
mache."
Nur,
das bloße Wissen reicht nicht aus, definitiv nicht", stimmt ihm Carola
zu. "Man muss auch noch darüber reden können". Sechs Monate nach
ihrem Seminar in Münster hat Carola eine befristete Stelle bei einer
Landesbank angenommen. Sechs Monate danach wurde ihr eine Stelle als
Abteilungsleiterin angeboten. "Vor meinem LWP-Seminar hätte ich mich
nicht getraut, einem Arbeitgeber zu sagen- Ich bin kreativ- oder- Ich kann
andere Menschen überzeugen und motivieren- Ich hätte mich darauf
verlassen, dass der Arbeitgeber irgendwie selber darauf kommt."
Die
zweite Phase heißt "Wo?"
In
was für einer Branche will der Stellensuchende arbeiten? Und mit was für
Kollegen und Kunden? Jeder hat hierzu Ideen, aber wer hat schon all diese
Ideen konsequent gesammelt und zu Papier gebracht? Und wer hat je gelernt,
einzelne Ideen gegeneinander abzuwägen oder gar miteinander zu
kombinieren?
Die
Aktivitäten in der zweiten Phase eines LWP-Programms lassen sich nur
bedingt und dann nur grob beschreiben. Es ist oft chaotisch. Teilnehmer
kombinieren ihre Interessen nach den verrücktesten Strickmustern, es ist
streckenweise verspielt oder gar albern. Gruppendynamische Prozesse rücken
Aspekte aus dem Hintergrund in den Mittelpunkt, während das, was anfangs
im Mittelpunkt stand, vorübergehend nur eine nebensächliche Bedeutung
bekommt. Bereiche verschmelzen sich und werden aufs neue mit noch anderen
kombiniert. Teilnehmer stellen verblüfft fest, dass ihre
Gruppenkommilitonen ihnen unendlich viele Möglichkeiten vorzuschlagen
haben; viel mehr Ideen, als die Person für sich je gesehen hat.
Jürgen
ist Volkskundler und liebt einerseits Museen, aber auch die Musik. Bis zu
einem bestimmten Moment in seinem Kurs hat er nie in seinem Leben darüber
nachgedacht, beide Bereiche miteinander zu verknüpfen. Die Möglichkeiten
sind da, ob in einem Museum für Musikinstrumente oder in einem
musikalischen Archiv oder in einer Agentur, die Konzertabende in Museen
organisiert. Wenn solche kombinierte Ideen einmal im Raum stehen, sind sie
für andere Menschen oft dermaßen offensichtlich, dass sie nur sehr
schwer nachvollziehen können, wenn der Stellensuchende sagt, diese Ideen
habe er vorher nicht gesehen. "Ist doch naheliegend" sagen die anderen
dann, aber eben erst dann.
Vorher stöhnt der Teilnehmer nur: "Leider ist das, was ich machen will,
nicht machbar."
"Wie
aber finde ich das, was ich suche?"
In
der dritten Phase, der "Wie"-Phase, erstellt jeder Teilnehmer einen
Plan, wie er oder sie in einem selbst gewählten zeitlichen Rahmen seine
Bereiche mit den neu erlernten Instrumenten untersuchen kann. Sie lernen,
ihre Gespräche mit anderen Berufstätigen so zu strukturieren, dass viele
Menschen ihnen mit wenig Aufwand weiterhelfen können. Sie lernen rigoros
zwischen "offizieller Wirklichkeit" und "erlebter Wirklichkeit" zu
unterscheiden. Vor allem lernen sie, wie sie Termine bei den
Entscheidungsträgern bekommen.
Carola
von der Landesbank lacht über ihre eigenen Erinnerungen. "Mitten in
meinem dritten Interview fiel mir plötzlich ein, wie sehr meine innere
Haltung zum Thema Bewerbung gewandelt hat. Ich wusste, ich weiß Bescheid
über diese Branche. Ich war keine Bittstellerin mehr. Ich hatte etwas zu
bieten, und auch darüber wusste ich Bescheid. Ich hatte etwas zu bieten,
und das änderte alles."
Als
Ingenieur erzählt Christoph seine Geschichte: "Ich habe meinem
Arbeitgeber von meinen Besuchen bei seinen Hauptkonkurrenten erzählt.
Manche Abläufe dort fand ich nicht so gut. Aber in manchen Bereichen
waren sie besser. Das habe ich auch gesagt, und mein Chef hat gemerkt, ich
schwafele nicht, ich rede schon Klartext mit ihm."
Sechs
Interviews an einem Tag: Ausgeh-Tag
Die
meisten LWP-Teilnehmer verstehen auf Anhieb, welche Vorteile sie mit den
Gesprächsstrukturen haben. Sie finden die Idee toll; im Prinzip. Und für
andere Leute. Die können sich nur nicht vorstellen, das sie selbst
so vorgehen. Zwei Drittel aller Teilnehmer bezeichnen sich als "eher schüchtern".
Auch
hier baut das LWP-Verfahren für Stellensuchende eine Brücke. Der erste Höhepunkt
des Seminars heißt: Ausgeh-Tag. Teilnehmer schwärmen morgens in der
Seminarstadt aus und haben acht Stunden Zeit, sechs potentielle
Arbeitgeber in ihrem gewählten Bereich persönlich kennenzulernen. Als
kleine pikante Erschwernis dabei: Keine Termine, keine Termine, keine
Ankündigung.
Viele
Teilnehmer berichten am Ende des Seminars, dass sie sich ursprünglich
heimlich vorgenommen hatten, sich an diesem Tag krankzumelden. Im
Nachhinein bezeichnen sie diese Aufgabe jedoch als die, die ihren Knoten
hat platzen lassen. Carola beschreibt, wie sie es erlebte: "Man weiß,
das geht nicht. Jeder normal denkende Mensch weiß, es geht nicht. Dann
gehst du als Teilnehmerin los, und siehst, wie du genau
das machst, wovon du vorher dachtest, das geht gar nicht. Spätestens
dann merkst du, wie wichtig all das Gerede vom Gedankenmodell war. Du
merkst, es geht viel mehr als du denkst!"
Letzten
Endes muss sich ein Modell anhand der von ihm erzielten Ergebnisse
beurteilen lassen. So erfreulich der Verlauf der bisherigen Programme in
Münster, Bremen und Frankfurt auch war, noch ist die Zahl der in
Deutschland gehaltenen Seminare eher klein. Aber die Ergebnisse aus
längerfristigen Programmen in Frankreich, England, und der Schweiz sind
sehr ermutigend. Große, namhafte Hochschulen wie INSEAD in Fontainebleau
und HEC in Paris haben solche Programme eingerichtet. Und die deutschen
Absolventen, wenn auch zahlenmäßig gering, sind oft leidenschaftliche
Fürsprecher des Verfahrens.
Fritjof,
ein Biologe, der nach seinem LWP-Seminar eine leitende Stellung im
Marketig-Bereich eines Pharma-Unternehmens antrat, beschreibt seine
jetztige Situation so: "Ich sage nicht, das ich der beste bin. Aber ich
habe gesehen, dass das, was ich kann, seinen Wert hat. Und es gibt so
viele Unternehmen, die mich gut gebrauchen können. Ich habe keine Angst
mehr, arbeitslos zu sein."
Für
manche Ohren klingen solche Sätze unverschämt. Aber Millionen von
Menschen sind arbeitslos. Viele Stellensuchende wären froh, solche Sätze
für sich sprechen zu können. Noch sind Fritjof´s Töne eher
ungewöhnliche Töne auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Alles neue ist zuerst
einmal ungewöhnlich. Im Rahmen der gesellschaftlichen Bemühungen, den
Stellensuchenden den Weg zurück in die Beschäftigung zu ebnen, könnte
es durchaus von Nutzen sein, wenn einige neue ( wenn auch ungewöhnliche )
Methoden zur Anwendung kommen.
Fritjof
hat den Weg vom Bittsteller zum Anbieter hinter sich. Andere werden ihm
folgen. Ein Paradigma kann sich eben ändern. Der Umgang mit dem
Arbeitsmarkt auch.
John
Carl Webb
*Alle
Namen von der Redaktion geändert
Helfende Hände
Zeitschrift des Diakonischen Werkes Westfalen
Nr. 4/1997
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